Hat der BND im Ukraine-Krieg versagt, Herr Conrad?

US-Geheimdienste haben Wladimir Putins Krieg erstaunlich präzise vorausgesagt. Vom deutschen BND war hingegen wenig bis gar nichts zu hören. Wurde der Nachrichtendienst überrascht? Ein Experte widerspricht. 

Der Geheimdienstexperte Gerhard Conrad ist ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) und leitete zuletzt von 2016 bis 2019 das EU Intelligence Analysis Centre (INTCEN) des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Aktuell engagiert er sich im Vorstand des Gesprächskreises Nachrichtendienste in Deutschland, der sich laut Selbstauskunft für eine sachgerechte Diskussion nachrichtendienstlicher und sicherheitspolitischer Belange einsetzt.    

Herr Conrad, als die russische Invasion begann, saß BND-Chef Bruno Kahl in Kiew fest und brauchte 30 Stunden, um das Land zu verlassen. Wurde der BND von Putins Krieg überrascht? 

Nein. Kahl war von der ukrainischen Seite eingeladen worden. Sie können davon ausgehen, dass der BND-Chef sich das vorher gut überlegt hat, angesichts der schwelenden Kriegsdrohung. Dass er trotzdem geflogen ist, nenne ich bedingten Vorsatz: Wohl wissend, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte, hat Kahl der Bitte der Ukrainer entsprochen. Dass am nächsten Morgen dann tatsächlich die ersten russischen Raketen geflogen sind, fällt unter die Kategorie “shit happens”. Es hätte auch ein oder zwei Tage später passieren können.

“Shit happens” aber häufiger beim BND, oder? Kritiker monieren, der deutsche Auslandsgeheimdienst sei mal wieder hintendran gewesen mit der Bewertung der Lage.

Es war in dem Zusammenhang viel Unsinn zu lesen. Etwa, dass eine BND-Sondereinheit Kahl da rausgeholt hätte. Der BND hat keine Sondereinheit, die im Übrigen ja auch gar nicht so schnell vor Ort hätte sein können. Kahl verließ das Land mit einer bewaffneten Eskorte der Ukrainer, im Übrigen zusammen mit anderen deutschen Diplomaten, die ebenfalls noch bis zuletzt Dienst taten.  

Es wäre nicht das erste Mal, dass deutsche Dienste über lückenhafte Informationen verfügen oder Kenntnisse nicht schnell genug weiterleiten. 

Der BND-Chef hätte nicht gewusst, was in der Ukraine passiert? Das ist nun wirklich ein schwer nachvollziehbares Argument. Der BND steht in engem Austausch mit US-Diensten, die, wie überall zu lesen war, seit Wochen detailliert vor einer Invasion gewarnt haben. Das Kanzleramt wurde täglich über die neuesten Erkenntnisse informiert. Zudem waren Satellitenbilder über kampfbereite russische Truppen längst in der Öffentlichkeit. Da soll ausgerechnet der BND nicht das Risiko einer Invasion gesehen haben? Das ist eine Debatte auf Stammtischniveau.

Putin galt in der deutschen Politik lange als ernstzunehmender Verhandlungspartner. Nun wird klar: Er hat die Bundesregierung jahrelang belogen. Wie sah ihn der BND? 

Über Putins Absichten bestand seit vielen Jahren Klarheit. Schon 2014, als Russland die Ostukraine überfiel und die Krim annektierte, bestand beim BND wenig Zweifel über die strategischen Ziele des Kremls. Dass man nicht unbedingt voraussagen kann, wie er taktisch vorgehen würde, also wann genau er was genau tut, steht auf einem anderen Blatt. Aber dass für Putin militärische Gewalt ein legitimes Mittel von Politik ist, wissen wir spätestens seit dem russischen Einmarsch in Georgien 2008.

US-Geheimdienste haben uns Wochen vor Putins Invasion vor genau diesem Szenario gewarnt. In Deutschland glaubte man noch am Vorabend des Krieges daran, den Kremlchef mittels Diplomatie umstimmen zu können. Wenn Sie sagen, der BND wusste das alles hat er zu zurückhaltend kommuniziert? 

Zunächst war das Vorgehen der US-Regierung, Geheimdienstinformationen so öffentlich zu streuen, in amerikanischen Sicherheitskreisen nicht unumstritten. Man riskiert ja damit, eigene Befähigungen auszuplaudern oder gar Quellen offenzulegen und diese in Gefahr zu bringen. Im konkreten Fall diente diese neue Offenheit politischen Zielen, unter anderem, um die internationale Öffentlichkeit vorzubereiten, im Idealfall sogar Putin von seinem Vorhaben abzubringen, was bekanntlich nicht funktionierte.

Der BND ist nicht die CIA: Man folgt hierzulande den traditionellen Gepflogenheiten, die Bundesregierung tagesaktuell mit Lageberichten und Analysen zu informieren. Das geschieht auf allen Ebenen, bis hin zum Bundeskanzler persönlich. Was dann mit den Informationen geschieht, entscheidet die Politik, nicht der BND.

Geheimdienstexperte Gerhard Conrad: “Die Debatte hat Stammtischniveau.” (Quelle: Privat)

Wenn der BND über Putins Kriegspläne im Bilde war und diese Informationen ans Kanzleramt weiterreichte, warum setzte man dort weiter auf Diplomatie? 

Aus der Forschung, speziell den “Intelligence Studies”, wissen wir: Es hilft nicht zu warnen, wenn der Gewarnte nicht hören will. Dass Geheimdienste auf eine Gefahr hinweisen und die Politik diese Warnung ignoriert, ist leider ein sehr banaler Vorgang. 

Nach dem Besuch des Kanzlers in Moskau Mitte Februar war plötzlich vom “Faktor Scholz” die Rede: Putin befahl einen vermeintlichen Teilrückzug seiner Truppen, SPD-Chefin Esken jubelte über die “beeindruckende Krisendiplomatie”. Wenig später war klar, Putin hatte alle getäuscht. Wie kann politische Kommunikation so schiefgehen, wenn der Kenntnisstand der Dienste eigentlich ein anderer ist?

Ich glaube, dass auch unter den politischen Verantwortlichen viele diesen tiefgreifenden Paradigmenwechsel einfach nicht wahrhaben wollten. Zudem hatte man bis zuletzt noch versucht, alles Mögliche zu tun, um es nicht zum Schlimmsten kommen zu lassen. Was hätte der Bundeskanzler auch sonst machen sollen? Er war ja auch nicht der einzige Regierungschef, der sich entsprechend bemühte, und sei es nur “for the records”.

US-Präsident Biden hatte einen ähnlichen Kenntnisstand und warnte offensiv vor Putins Angriffsabsichten. Scholz vermittelte bis zuletzt den Eindruck, dass Diplomatie noch eine Chance hatte. Damit verzögerte er auch die Sanktionen.

Offener zu kommunizieren, hätte er sich innenpolitisch angesichts verbreiteter pazifistischer Überzeugungen wohl gar nicht leisten können. Selbst wenn er gesagt hätte, “meine eigenen Dienste” haben mir dies oder jenes berichtet – es hätte nicht ausgereicht. In Deutschland hat nicht nur die Politik an pseudo-ehernen Grundsätzen festgehalten, sondern auch große Teile der Öffentlichkeit.

Zum Beispiel?

Etwa daran, jede Form der “Militarisierung von Außen- und Sicherheitspolitik” abzulehnen und auch, dass Geheimdienste vor allem eingehegt und reguliert werden müssen, anstatt sie erst einmal zu befähigen, ihren Job richtig machen zu können. Ich fand es bemerkenswert, wie plötzlich überall zu lesen war, womit Scholz nun alles endlich gebrochen habe. Die Wahrheit ist doch, dass es genehm war, nicht über so hässliche Dinge wie militärische Kapazitäten, Rüstung und Abschreckung zu sprechen.

Worüber sollte Ihrer Meinung nach mehr gesprochen werden?

Dass zum Aufbau eigener Verteidigungskapazitäten in einer neuen Bedrohungslage gerade auch im Vorfeld fähige Geheimdienste gehören, die diese Bedrohungslage erkennen und qualifizierte Schlüsse ziehen. Ich bin jedenfalls auf die Debatte gespannt, wenn es darum geht, dass deutsche Geheimdienste mehr Kompetenzen erhalten sollen, um den Bedrohungen der Zukunft etwas entgegenzusetzen. Dann sehen wir, aus welcher Richtung dann noch Lob kommt.

Scholz’ neue außenpolitische Doktrin wirkt überhastet. Die konkreten Versprechen etwa bei der Aufstockung des Bundeswehr-Budgets verdecken, dass die eigentlichen Fragen unangetastet bleiben: Wie wird äußere Sicherheit künftig definiert? Wandelt sich die Bundesrepublik von einer Friedens- zur Militärmacht? Braucht es mehr Auslandseinsätze?

Scholz hat in seiner Rede gleich mehrere Lebenslügen der Bundesrepublik kassiert. Berlin ist derzeit voller geschlachteter heiliger Kühe. Ich ahne aber, da werden einige wieder reanimiert. Viele Sozialdemokraten und Grüne wurden vor den Kopf gestoßen, unter anderem SPD-Fraktionschef Mützenich und seine Leute. Das wird ein Nachspiel haben. 

Herr Conrad, vielen Dank für das Gespräch.

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